Hyperaktivität – eine selbstgemachte Epidemie?

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Hyperaktivität – eine selbstgemachte Epidemie?

Kaum eine Diagnose wird heutzutage von Psychiatern, Psychologen und Therapeuten bei Kindern und Jugendlichend so oft gestellt, wie die der Hyperaktivität, bzw. des “Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung”, kurz “ADHS”. Diese Entwicklung steht im Kontext eines größeren Trends von einer zunehmenden Anzahl der offiziellen Definitionen von psychischen Krankheiten und ihren Symptomen in den psychologischen Manualen wie ICD-10 und dem neuen DSM-V, die Spezialisten zur Klassifikation der Störungen nutzen. Zuletzt hat sogar einer der Mitbegründer dieser Manuale, Allen Frances, ein Buch mit dem Titel “NORMAL: Gegen die Inflation psychischer Diagnosen” veröffentlicht, indem er sich diesem Thema kritisch widmet und von einer “Epedimie” der Störungsdefinitionen und Diagnosen spricht. Denn im Falle von ADHS stehen ebenfalls enorme Gewinne der Pharmakonzerne hinter den Diagnosen, auf Grund derer Stoffe wie Ritalin verschrieben werden. Brauchen wir also eine neue Sicht auf ADHS und seine Ätiologie, also Entstehungsgeschichte?

Was ist Hyperaktivität?

Bei der umgangssprachlich als Hyperaktivität bezeichneten Störung handelt es sich um eine Verhaltensstörung, die bei bis zu zehn Prozent der Kinder und Jugendlichen diagnostiziert wird. Sie tritt meist in der Kindheit und Jugend auf und kann sich in das Erwachsenenalter fortsetzen. Hierbei treten Probleme wie schlechte Schul- und Arbeitsleistungen auf. Was die Gründe für ADHS angeht, ist eine Evolution von Theorien und Ansätzen über die letzten dreißig Jahre zu beobachten, der in dem aktuellen multikausalen Modell mündet, dass sowohl psychologische als auch biologische Komponenten in die Erklärungversuche mit einbezieht. So werden sowohl Deprivation von bestimmten essentiellen Erfahrungen zur gesunden psychischen Entwicklung während der Kindheit, als auch biologische Faktoren wie genetische Disposition und Vererbung sowie der Konsum von teratogenen, also giftigen Stoffen für den Embryo während der Schwangerschaft. Auch, wenn bildgebende Verfahren Unterschiede in den funktionalen Netzwerkaktivitäten zum Beispiel im Frontallappen zwischen Kindern mit ADHS und ohne ADHS finden, gibt es noch keine eindeutigen Ergebnisse in diesem Bereich, die Patienten allein an Hand der Gehirn-Scans unterscheidbar machen würden.

Genetik gegen Epigenetik

Trotzdem ist dem heutigen Trend des Reduktionismus und der Sichtweise, dass unsere biologischen Grundlagen, also unser Gehirn, ausschlaggebend für unser psyschisches Befinden ist, auch unsere durch Medikamentengabe geprägte Behandlungsweise geschuldet. Zwar tritt der Bereich der Epigenetik, die den Einfluss von Umweltfaktoren auf die Entwicklung betont auch in wissenschaftlichen Kreisen immer weiter hervor, doch hat er immer noch den zweiten Platz gegenüber den “harten” Fakten der Biologie. Jemand, der dies ändern möchte, ist Gerald Hüther. Er begann ebenfalls als Neurobiologe, hat jedoch nach im laufe seiner erfolgreichen akademischen Karriere immer mehr “weiche” Faktoren der Entwicklung in seine Theorien und Vorschläge für die Praxis eingearbeitet – und kann sie zum Teil auch durch seine empirischen Studien belegen.

Gerald Hüthers “via nova” – der neue Weg für die Behandlung von ADHS?

Nun hat sich der Neurobiologe an die praktische Umsetzung seiner Theorien gemacht. Hierzu hat er zusammen mit seinem Team aus Psychologen und Pädagogen eine Art zweimonatiges Sommercamp in den Alpen mit Kindern veranstaltet, die mit ADHS diagnostiziert wurden. Auf dem Programm standen naturverbundene Aktivitäten, wie der Umgang mit Tieren und das Verarbeiten von Naturrohstoffen. So sollte ein Kontrast zu dem durch Reizüberflutung geprägten Umfeld der modernen Großsstadt und dem durch Medienkonsum geprägten Alltag geschaffen werden, den das Team für ADHS mit verantwortlich macht. Der aktive Alltag entspricht den Bedürfnissen der 11 Kinder besser, als die meist sitzend verrichteten modernen Freizeitaktivitäten oder Schulaufgaben. Das natürliche Umfeld und die dadurch entstehenden neuen Möglichkeiten bringt Hüther mit einer verstärkten Entspannung, Selbsterfahrung und damit Selbsterkenntnis sowie der Fähigkeit, Gefühle zu regulieren in Zusammenhang. Der Professor nennt dies eine systemische Impulstherapie, in der die Kinder klar erkennen  können, wie ihr Beitrag zur Gemeinschaft und ihren Interessen ihnen Freude und Gegenleistungen bringt. Diese Lernerfahrungen sollen durch Einbezug der Eltern auch als Transfer auf den Schulalltag weiterwirken. In diesem Modell wird der grundlegend andere Ansatz zur medikamentösen Behandlung deutlich. Die Kinder auf der Alm verzichten auf die Medikamente, die inzwischen rund 10 Millionen Kinder auf der Welt nehmen und lassen sich somit in ihren unterschiedlichen Bedürfnissen und Erfahrungen nicht auf ihr dopanierges System und deren pharmakologische Manipulation reduzieren. Denn in der Humanwissenschaft ist es selten ein klarer kausale Zusammenhang zwischen zwei Variablen, der ein Phänomen erklärt. So ist die Annahme, dass die veränderten Eigenschaften des Dopaminhaushalts bei Kindern mit ADHS die Ursache für die Störung sei, eine für die Wissenschaft untypische Überspitzung, die eher einem dem Zeitgeist geschuldeten Dogma des biologischen Primat geschuldet scheint, als objektiver wissenschaftlichen Forschung.

“Shared Attention” als Erfahrung nachholen

Gerald Hüther lässt sich wieder auf die Beobachtung anderer Faktoren neben der Biologie ein und weist auf den Mangel der Fähigkeit der Kinder zur geteilten Aufmerksamkeit hin. In den zwei Monaten auf der Alm stellte er fest, dass die Kinder nicht generell in ihrer Aufmerksamkeit eingeschränkt sind, sondern vielmehr diese nicht zusammen mit anderen auf ein Ziel, eine Aufgabe richten können. Dies Defizit ist nach dem allgemeinen Verständnis der Theorie des Geistes und seiner Entwicklung auf den Mangel an genau dieser Aktivität in einer sensiblen Phase der Kindheit zurückzuführen. Dadurch, dass die Kinder auf der Alm gemeinsamen Aktivitäten meistern, holen sie diese Erfahrung zu einem gewissen Grad nach. Dies sollte auch von Familien wieder mehr in den Vordergrund gerückt werden, also in gemeinsamen Aktivitäten, dem familiären Bewältigen von Aufgaben seinen Ausdruck finden. Denn die Kinder kommen nicht mit fertigen Gehirnen auf die Welt, sondern das Fundament für ihr kognitives Potential wird durch die Anregung durch die Umwelt während der Kindheit gelegt. Doch auch danach ist das Gehirn kein fertiges “Produkt” – neue Reize und Herausforderungen können immer noch die Aktivität und sogar Struktur des Gehirns verändern und so zu Linderungen solcher Defizite führen – und das ganz ohne Medikamente.

 

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