Selbstverletzendes Verhalten (SVV) – Ursachen & Massnahmen
Die Abkürzung SVV steht für selbstverletzendes Verhalten. Gemeint ist damit eine psychische Störung, die vornehmlich als Begleiterscheinung einer seelischen Erkrankung auftritt.
Jeder von uns hat sich schon einmal vor lauter Anspannung und Nervosität auf die Lippen gebissen oder die Innenseite der Wangen mit den Zähnen bearbeitet. Den wenigsten Menschen ist dabei bewusst, dass es sich hier bereits um die ersten Symptome einer ernst zu nehmenden seelischen Erkrankung handeln kann. Im weitesten Sinne zählt Lippenbeißen oder auch Nägelkauen zu dem Verhalten, was in der klinischen Psychologie als SVV bezeichnet wird. Aber nicht jeder, der unter großem Druck und starker Nervosität Nägel kaut, muss befürchten, psychisch krank zu sein. Im Gespräch mit der Psychologin Frau Dr. Jeanne Schnehage-Poci konnten wertvolle Informationen zu SVV gesammelt werden, die für Betroffene und Angehörige wichtig sind und weiterhelfen können.
Lesen Sie hier u.a., woran man die ersten Anzeichen einer SVV-Erkrankung erkennt, wie man sie behandeln kann und wie Angehörige damit umgehen können.
Vistano: Ist SVV für sich alleine gesehen als psychische Erkrankung zu werten, oder tritt es als Symptom, Folge oder Begleiterscheinung einer seelischen Grunderkrankung auf?
Dr. Schnehage-Poci: Für sich alleine kann selbstverletzendes Verhalten im weitesten Sinn als Ausdruck von Nervosität auftreten. Wir kennen es alle: Nägelkauen, Beißen auf die Innenseite der Wangen oder auf die Lippe, wenn wir sehr unter Druck stehen, uns aufregen, oder sehr nervös sind. Sofern die Ursache dafür ausschließlich in Nervosität oder Stress begründet ist, liegt keine psychische Erkrankung vor.
Behandlungsbedürftiges SVV – von dem wir hier sprechen wollen – gilt vornehmlich als Begleiterscheinung oder Folge einer psychischen Erkrankung.
Vistano: Welche psychischen Erkrankungen können SVV nach sich ziehen?
Dr. Schnehage-Poci: Häufig handelt es sich um ein Symptom, bzw. um eine mögliche Begleiterscheinung der Borderline Persönlichkeitsstörung, wenn SVV auftritt. Auch bei Ess-Störungen – Magersucht, Ess-Brech-Sucht, krankhaftem Übergewicht – und Depressionen tritt SVV auf. Weiter können Missbrauchserfahrungen, Zwangsstörungen oder Deprivationen zu SVV führen. Unter Deprivation versteht man den Entzug von Nestwärme, wie es beispielsweise bei Heimkindern vorkommen kann. Psychotische oder schizophrene Schübe können ebenfalls der Auslöser für SVV sein. Zuletzt soll noch eine mögliche geistige Behinderung und das Vorliegen von Autismus genannt werden.
Vistano: Was motiviert die Betroffenen zu diesem Verhalten und was sind die ersten Anzeichen?
Dr . Schnehage-Poci: Die Motivation liegt in den gefühlsmäßigen Befindlichkeiten. Dazu zählen Spannung, Wut, Ärger und Selbsthass. Diese werden so stark, dass die Betroffenen nach einem Ventil suchen. Durch SVV werden diese quälenden Emotionen gelindert und abgeschwächt, es kommt zur momentanen Erleichterung. Dauerhafte Angst- und Ärgergefühle begünstigen SVV.
Vistano: Wie stellt sich die Persönlichkeitsstruktur der betroffenen Personen dar? Wie denken die Personen über sich selbst?
Dr. Schnehage-Poci: Zunächst soll nicht unerwähnt bleiben, dass auch eine genetische Ursache vorliegen kann.
Bei SVV kommen zwei große emotionale Zustände zusammen: Angst und Ärger. Die Betroffenen können sich selbst nicht leiden und reagieren höchst sensibel auf Ablehnung oder Kritik von außen. Sie sind impulsiv, was auch im Zusammenhang mit der Borderline-Persönlichkeitsstörung gesehen werden kann. Weiterhin beobachtet man eine Tendenz zur Depression, eine verstärkte Reizbarkeit kann ebenfalls festgestellt werden. Ihr Selbstvertrauen ist eher gering oder gar nicht ausgeprägt, es dominieren Einsamkeitsgefühle und die Neigung, Problemen aus dem Weg zu gehen. Meist handelt es sich um Personen, die nicht gelernt haben, ihre Gefühle zu kontrollieren. Kern der Sache ist immer die Problematik von Angst plus Ärger als Persönlichkeitsmerkmal. Die Betroffenen unterdrücken ihre Angst und richten letztlich ihren Ärger gegen sich selbst.
Vistano: Welche Ausprägungen von SVV gibt es und wie ist der Verlauf der Erkrankung?
Dr. Schnehage-Poci: Am häufigsten verletzen sich die Betroffenen durch Ritzen, Schneiden oder Kratzen der Haut an Armen und Beinen mit spitzen Gegenständen. Auch kommt es zu Verletzungen an Bauch, Brust, Genitalien oder im Gesicht. Schlagen des Kopfes oder des Körpers im Allgemeinen tritt ebenfalls häufig auf – hier ist das Stichwort Selbstgeißelung zu nennen. Das Ausreißen von Haaren ist ebenfalls eine Ausprägung von SVV. Manche Betroffene bohren sich mit dem eigenen Finger in die Augenhöhle, stechen sich mit Nadeln oder beißen sich Nägel, Lippen und Wangen in ausgeprägter Form. Teilweise kann man auch das Abbeißen von Fingerkuppen beobachten. Es werden Zigaretten am Körper ausgedrückt, Haut über eine Kerzenflamme gehalten, oder Sprays aufgetragen, bis es an den betroffenen Stellen zu Erfrierungen kommt. Eine Form von SVV ist das Schlucken oder die Injektion von schädlichen Substanzen, z.B. Putzmittel oder Chemikalien.
Der Verlauf der Erkrankung ist durch eine stete Steigerung gekennzeichnet. Die Patienten suchen durch ihr Handeln nach Erleichterung ihrer übermächtig quälenden Gefühle. Sie gewöhnen sich an den Schmerz. Als Folge davon muss er immer weiter gesteigert werden, damit wieder ein Reiz entsteht, der ausreicht, um eine momentane Erleichterung der emotionalen Not zu erreichen.
Vistano: Gibt es eine statistische Häufung auf ein bestimmtes Lebensalter oder Geschlecht?
Dr. Schnehage-Poci: Das am häufigsten genannte Alter bei SVV-Patienten ist das 13. Lebensjahr, wobei der Anteil von jungen Mädchen höher ist, als der von Jungs. Die Begründung für dieses Phänomen ist in unserer gesellschaftlichen Struktur zu finden, in der Mädchen zum und erzogen werden. Sie sollen ihre Aggressionen unterdrücken, was dazu führen kann, dass sich der Ärger und die Wut gegen sie selber richten. Jungs dagegen dürfen ihre Aggressionen ausleben. Nach der Pubertät (12 – 15 Jahre) kommt SVV seltener vor.
Vistano: Welche Behandlungsmethoden gibt es?
Dr. Schnehage-Poci: Die drei Pfeiler psychotherapeutischer Behandlung sind die Tiefenpsychologische Therapie, Psychoanalytische Therapie und Verhaltenstherapie. Je nach dem Einzelfall wird eine dieser Methoden angewandt, um den Auslöser für SVV zu behandeln. Als Beispiel soll ein Behandlungskonzept für Patienten mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung mit SVV gelten: Es erfolgt eine therapeutische Behandlung der Grunderkrankung, gleichzeitig werden mit dem Patienten alternative Möglichkeiten, die dem körperschädigenden Verhalten gegenüberstehen, eingeübt und Bewältigungsstrategien für, bzw. gegen den emotionalen Leidensdruck vermittelt. Durch die Therapie wird eine Verhaltensänderung bewirkt. Die Alternativen für SVV geben dem Patienten die Möglichkeit, ein körperliches Ventil zu schaffen, dabei aber Verletzungen zu vermeiden. Beispiele dafür sind Barfußlaufen im Schnee, Eiswürfel auflegen statt Spray oder das Kauen von Chilischoten statt dem Aufbeißen der Wange.
Die Behandlung erfolgt oft in mehrmonatigen Klinikaufenthalten. Die ambulante Therapie begleitet den Patienten meist einige Jahre. Wünschenswert wäre auch eine begleitende Therapie für die Familie, um die krankmachenden sozialen Bedingungen zu verändern, sofern diese vorliegen.
Vistano: Wie können Angehörige damit umgehen?
Dr. Schnehage-Poci: Ein Angehöriger sollte den Betroffenen nicht wegen dem SVV kritisieren. Das erhöht den Druck auf den Patienten und kann zur Verschlimmerung beitragen. Vorwürfe und Vorhaltungen sollen unterlassen werden. Stattdessen braucht der Patient das Gefühl des Beistands und der Unterstützung in Zeiten, in denen die negativen Gefühle überhand nehmen, was ja die Grundlage für das selbstverletzende Verhalten darstellt. Daraus folgt schon die nächste empfohlene Verhaltensweise für Familien: die bestehende Distanz sollte, wenn möglich aufgeweicht werden, Kälte abgebaut und die Beziehung zum Patienten intensiviert werden, wenn diese Problematik besteht. Es wäre wünschenswert, wenn sich die Angehörigen über mögliche therapeutische Unterstützung informie ren würden, denn an dieser Stelle kann den Patienten wirklich geholfen – oder auch geschadet werden.
Wichtig ist, das SVV keinesfalls zu ignorieren. Auch wenn Betroffene nicht aktiv mit ihrem sozialen Umfeld über ihr Verhalten sprechen, bedeutet es nicht grundsätzlich, dass sie nicht darüber reden wollen. Vielleicht sind sie nur einfach noch nicht so weit und brauchen noch Zeit.
Obwohl es eine Gradwanderung sein kann, sollte das Umfeld immer wieder Gesprächsbereitschaft zeigen, jedoch ohne zu bedrängen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dem Betroffenen zu zeigen, dass er starken Rückhalt in seinem Umfeld finden kann und er sich auf seine Mitmenschen verlassen kann. Ihm muss offensichtlich gezeigt werden, dass man seine Erkrankung als solche ernst nimmt und sie nicht als Spinnerei abtut.
Denn Selbstverletzendes Verhalten ist eine ernstzunehmende Erkrankung, die therapiert werden kann. Jedoch ist die Erkenntnis und Bereitschaft sich helfen lassen zu wollen der erste und wahrscheinlich auch schwerste Schritt. Die Betroffenen müssen wissen, dass sie nicht allein sind und dass sie sich wegen ihres Verhaltens auf keinen Fall schämen müssen. Die verschiedenen von Frau Schnehage-Poci dargestellten Therapiemöglichkeiten helfen dem Betroffenen einen Ausweg aus dem Strudel der Schmerzen zu finden und auf dem richtigen Weg zu bleiben. Doch aller Anfang ist schwer – Denn die Betroffenen kämpfen meist mit einer Vielzahl von Problemen und wissen oft nicht an wen Sie sich wenden können.
Für diese Fälle gibt es Beratungsstellen wie z.B. die Cariats, die Betroffenen helfen einen Anfang zu finden. An diese Stellen können sich auch Angehörigen wenden, wenn Sie Hilfe oder Auskünfte benötigen.
Da die Beratungsstellen unter öffentlicher Trägerschaft (Kommune, Kirche, Land, freie Wohlfahrtsverbände) stehen und über diese finanziert werden, ist die Beratung kostenlos. Zudem ist es für junge Betroffene möglich, sich ohne Wissen der Eltern beraten und helfen zu lassen. Für eine langfristige ambulante Therapie sollte jedoch ein Psychotherapeut oder Psychiater konsultiert werden.
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