„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


In der heutigen Leistungsgesellschaft ist es wichtig, dass alle Menschen funktionieren und möglichst viel Leistung bringen. Auch von den Kindern wird das von Anfang an gefordert. Was aber wenn sich ein Kind nicht schnell genug entwickelt? Leidet es an einer Entwicklungsverzögerung und muss therapiert werden? Viele Erwachsene sehen Therapiebedarf wo keiner ist. Dr. med. Michael Hauch klärt im zweiten Teil seines Interviews mit Vistano darüber auf, weshalb überflüssige Therapien sogar schädlich sein können.

Vistano: Sie sagen, dass Kinder zunächst beobachtet werden sollten, bevor eine vorschnelle Therapie angeordnet wird. Weshalb ist Ihnen die Beobachtung so wichtig?

Hauch: Ich finde ganz wichtig zu wissen, dass wir Menschen keine Roboter sind. Wir unterliegen keinem Schaltplan, sondern entwickeln uns ganz individuell. Erst einmal muss ich als Arzt gucken, woher kommt das Kind und welche Fortschritte hat es in der letzten Zeit gemacht, was kann es gut und was schlecht. Viele haben immer nur einen Defizitblick auf das Kind.

Fatal sind letztendlich die Tests. Die sind zwar teilweise wichtig, aber man muss sie richtig interpretieren. Ich sage den Eltern immer: „Wenn Sie Hochleistungssportler sind und haben jahrelang für die Olympischen Spiele trainiert und sind dort im Endlauf, geben Sie natürlich 130 Prozent.“ Aber ein Kind, das im Kindergarten einen Test machen soll, hält diesen vielleicht für Schwachsinn, möchte grade lieber draußen spielen oder findet den Untersuchenden blöd. Dann sagen die Testergebnisse eines bestimmten Tages gar nichts über das Kind aus. Mir sind gut gemachte und dokumentierte Beobachtungen viel wichtiger. Aus ihnen kann man mehr ablesen als aus irgendwelchen Tests.

Vistano: Da über 40 Prozent der Jungen und etwa 30 Prozent der Mädchen wenigstens eine funktionelle Therapie verordnet bekommen, stellt sich die Frage, bei wie vielen von ihnen diese sinnvoll ist? Gibt es überhaupt Kinder denen eine Therapie helfen kann?

HauchZunächst muss festgehalten werden, dass es bei den Therapien von denen wir nun reden nicht darum geht etwas Verlorenes wieder zu erlangen. Wir reden über Therapien bei Entwicklungsstörungen oder –verzögerungen. Und da muss man sich fragen, was bringt eine Therapie überhaupt? Die Wirkung solcher Therapien ist gar nicht bewiesen, denn es gibt keine Langzeitstudien über Therapieerfolge. Beziehungsweise die Studien, die es gibt, zum Beispiel über Physiotherapie bei Frühgeborenen, zeigen, dass es gar keinen Unterschied gibt. Es gibt keine langfristige Validierung dieser Therapien. Kurzfristig bewirkt sie vielleicht einen Übungseffekt, auch Logopädie zeigt bloß Übungseffekte. Man muss also eigentlich fragen, was machen die überhaupt?

Vistano: Was ist Ihrer Meinung nach schädlicher, eine überflüssige Therapie oder eine nichtverordnete notwendige Therapie?

HauchAuf Grund des nicht bewiesenen Therapieerfolgs bin ich definitiv der Meinung, dass eine überflüssige Therapie schädlich ist. Bei überflüssigen Therapien wird das Kind als krank und unnormal aus der Masse der Kinder herausgehoben, es bedarf schließlich einer medizinischen Diagnose und medizinischen Therapie. Das sollte nicht verharmlost werden. Ich muss auch hinterher den Therapieerfolg überprüfen und das passiert in den meisten Fällen nicht. Außerdem werden vorschnell Therapien verordnet. Deshalb ist das Kapitel ADHS in meinem Buch so umfangreich geworden. Schließlich ist dies ein gutes Beispiel wie vorschnelle Therapien verordnet werden und wie der Markt hier funktioniert.

Therapien sind in hohem Maß schädlich. Einerseits bei dem Kind und andererseits bei den Eltern, weil die Therapien das Defizitdenken der Eltern verstärken. Es schädigt die Eltern-Kind-Beziehung, denn die Eltern werden zu Co-Therapeuten. Sie müssen viel Zeit investieren, die sie lieber im Schwimmbad, bei Brettspielen oder auf dem Spielplatz mit ihrem Kind verbringen sollten.

Denke ich an nichtverordnete notwendige Therapien, muss ich wieder anmerken, dass wir hier von Therapien bei Entwicklungsverzögerungen sprechen, die nicht validiert sind. Ich bin der Meinung, ich brauche dann eine Therapie, wenn ich dem Kind Alltagsfähigkeiten beibringen muss, besonders einem behinderten Kind. Zum Beispiel die Fähigkeit mit einem Löffel essen zu können, sich die Schuhe zubinden zu können oder einen Reißverschluss zumachen zu können. Gerade im Bereich der behinderten Kinder ist es oft so, dass die Eltern sich am Anfang denken: „Jetzt mache ich ganz viele Therapien und dann wird mein Kind normal.“ Und auch da sehen sie das Kind in seinen Bedürfnissen gar nicht, sondern das Kind wird einem Therapiemarathon unterzogen. Dieser ist weder gut für die Entwicklung des Kindes, noch für die Eltern-Kind-Beziehung.

Auch die Angst vor sich schließenden Zeitfenstern ist in diesem Zusammenhang völlig unangebracht. Wir können unser ganzes Leben lang etwas lernen. Das was wir nicht später wieder aufbauen können oder nur mit großen Anstrengungen, ist die Beziehungsarbeit, der Beziehungsaufbau und das Vertrauen der Eltern in das Kind. Wenn das fehlt in den ersten zwei Jahren, kriegt man das später nicht mehr hin.

Ich kann zahlreiche Beispiele aus meiner Arbeit im Kinderhilfezentrum in Düsseldorf nennen. Das ist praktisch ein ganzer Stadtteil, in dem die Kinder aus den Familien heraus genommen werden, weil sie vernachlässigt, missbraucht, geschlagen oder vergewaltigt wurden. Diese Kinder können teilweise mit drei oder vier Jahren weder laufen noch sprechen. Alles was wir mit diesen Kindern machen ist nicht ihnen tausend Therapien angedeihen zu lassen, sondern eigentlich bieten wir ihnen nur ein liebevolles Zuhause, ein sauberes Bett, saubere Kleidung, regelmäßige Mahlzeiten, ein paar Umgangsregeln und eine Bezugsperson. Dann kann man die Kinder nach einem halben Jahr nicht mehr wiedererkennen. Ohne eine Therapiestunde haben sie sprechen, laufen oder hüpfen gelernt.

Therapien können Kindern und Eltern also schaden, was sollen Eltern allerdings tun, wenn sie bemerken, dass ihr Kind eine Entwicklungsverzögerung hat? Ab wann ist eine Therapie sinnvoll und wie kann man das Kind ohne Therapie unterstützen? Diese Fragen beantwortet Dr. Michael Hauch im dritten und letzten Teil des Interviews.

 

Marihuana gegen Appetitlosigkeit

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


Der Konsum von Marihuana verursacht bei vielen Menschen ein Hungergefühl, das in wahren Fressorgien enden kann. So wird nach dem Genuss eines Joints oftmals eine Pizza bestellt oder die Vorräte geplündert. Das Maß wird dabei schnell außer Acht gelassen. Vor einer Tafel Schokolade wird ebenso wenig Halt gemacht wie vor besagter Pizza mit extra viel Belag. Seit einigen Jahrhunderten ist diese Tatsache bereits bekannt. Nun wurde erstmals herausgefunden, warum dies so ist.

Lange Zeit ging man davon aus, dass Marihuana die Konzentration Blutzuckers senke. Die naheliegende Folge dessen ist der besagte Heißhunger. Studien, die dieses Phänomen beweisen sollten, zeigten jedoch, dass diese Annahme falsch ist. Inzwischen wurde herausgefunden, dass der Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC), der in der Cannabispflanze produziert wird, direkt die Appetithormone beeinflusst. Das Cannabinoid-System ist in jedem Menschen angelegt. Im Körper befinden sich körpereigene Cannabinoide und dessen Rezeptoren. Bei Verletzungen zeigt sich, dass das System schnell reagieren kann und Schmerzen sofort lindert. Im Bereich der Onkologie bei einer Chemotherapie wird vor allem in Amerika  empfohlen Cannabis in Maßen zur Schmerzlinderung zu konsumieren.

Heißhunger und Genuss gehen Hand in Hand

Doch auch bei der Kontrolle des Hungergefühls wird die Wirkung des Endcannabinoid-Systems sichtbar. Es reguliert die Balance zwischen einem Hunger und dem Sättigungsgefühl. In der Hirnregion des Hypothalamus ist das Hormon Leptin dafür verantwortlich ein Sättigungsgefühl zu erzeugen. Das Endcannabinoid-System wirkt dagegen und erzeugt in derselben Hirnregion ein verstärktes Gefühl des Appetits. Konsumiert man Marihuana dockt das THC an eben dieser Stelle an. Seine Wirkung ist jedoch stärker als die des körpereigenen Endcannabinoids. Das Gleichgewicht zwischen Sättigungs- und Hungergefühl wird somit direkt beeinflusst, da sich das THC gegenüber Leptins behaupten kann.

Der Heißhunger allein ist jedoch nicht gänzlich die Ursache für den hohen Konsum an Nahrungsmitteln. Mit der Einnahme von Marihuana wird auch der Genuss der einzelnen Nahrungsmittel gesteigert. Und das kennen ja viele Menschen: Wenn etwas besonders gut schmeckt, isst man mehr.  Wissenschaftler erklären dieses Phänomen mit der Tatsache, dass sich die Wirkung des THC auch auf das limbische System des Gehirns auswirkt. Hier werden unter anderem Belohnungsgefühle entwickelt, wie etwa beim Essen. Der erhöhte Cannabinoidspiegel, der sowohl den Heißhunger hervorruft als auch den Genuss der Speisen steigert, kann auch in einigen medizinischen Bereichen genutzt werden. In erster Linie kann man die Appetitlosigkeit während einer Chemotherapie reduzieren. In den USA wird dies bereits genutzt. Neben dieser werden Krebspatienten auch Cannabis-Pillen verschrieben, über dessen Dosierung und Häufigkeit der Einnahme die Betroffenen selbst entscheiden können. Die Übelkeit, die ein ständiger Begleiter der Chemotherapie ist, soll durch die Einnahme der Pillen ebenso verringert werden.

 

Neurofeedback als Therapie bei ADHS

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


Immer mehr Menschen, vor allem Kinder, leiden an der Krankheit ADHS. Aktuell wurde bei 259.000 Kindern ADHS diagnostiziert. Viele Ärzte verordnen dann Medikamente wie Ritalin. Seit Jahren werden dagegen Stimmen laut, die von einer medikamentösen Therapieform abraten und Nebenwirkungen dieser Behandlungsform anprangern. Zudem setze diese Therapieform lediglich bei den Symptomen, aber nicht bei den Ursachen an. Neurofeedback soll laut neusten Erkenntnissen betroffenen Kindern umso mehr helfen können und würde von einer Behandlung durch Medikamente wegführen. Aspekte wie die Impulskontrolle und die Konzentration würden auf diese Weise gefördert werden.

Wie funktioniert Neurofeedback?

Neurofeedback hilft Betroffenen dabei ihre Erregung und Konzentration zu kontrollieren. Dabei werden Messelektroden an den Kopf des Probanden angebracht und durch Hirnströme ist er in der Lage Gegenstände, die ihm auf einem Monitor präsentiert werden, zu bewegen. Dadurch lernen Kinder ihre Aufmerksamkeit zu fokussieren und ihre Verhaltenssteuerung zu erproben. ADHS-Betroffene weisen mehr Thetawellen als Gesunde auf.

Diese kommen im Zustand des Dösens oder Schlafens auf. Ihr Gegenpart sind die Betawellen, welche bei Konzentration und Aufmerksamkeit aktiv werden. Diese sind bei ADHS-Patienten vermindert. Das Neurofeedback kann die Produktion von Betawellen zwar nicht befördern, es reduziert allerdings die Thetawellen.

Studien zufolge erweist sich Neurofeedback als sehr hilfreich bei ADHS. Nach dem Training reduzierte sich die Symptomatik um 25 Prozent und weitere drei Monate später um insgesamt 35 Prozent. Diese Auswirkungen sind nicht kurzfristiger Natur, sondern halten auch noch Jahre später vor. Seit 2012 stuft die American Academy of Pediatrics Neurofeedback als ebenso wirksam wie Ritalin ein. Neurofeedback kann hierzulande in Form einer Verhaltenstherapie oder von einem Ergotherapeuten vorgenommen werden. Dann übernimmt die Krankenkasse die entstandenen Kosten. Zwischen 30 und 45 Sitzungen sind den Erfahrungen nach nötig, um Erfolge erzielen zu können. Neurofeedback scheint eine echte Alternative zur medikamentösen Behandlung von ADHS zu sein. Es setzt bei den Ursachen an, wo Ritalin lediglich die Symptome unterdrückt. Zudem sind bislang keine Nebenwirkungen von Neurofeedback bekannt.

 

Der suPAR-Wert als Indikator für spätere Nierenerkrankungen

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


Die Nieren übernehmen eine ganz wichtige Aufgabe für unseren menschlichen Organismus: sie filtern die Schadstoffe heraus. Versagt die Leistung der Nieren langsam, dann wird das relativ schnell durch eine zunehmend ungesunde Hautfarbe deutlich, die anzeigt, dass der Körper langsam vergiftet. Aus diesem Grund ist dieses Organ wichtiger als wir uns vielleicht eingestehen wollen. Versagen die Nieren ihre Funktion, dann muss das Blut auf andere Weise gereinigt werden. Der Einsatz einer Dialyse wird notwendig, welcher oftmals kräftezehrend und anstrengend für den Betroffenen ist. Die andere Alternative wäre ein Spenderorgan, das allerdings meistens auf sich warten lässt, zumal eine Abstoßungsreaktion nie gänzlich ausgeschlossen werden kann. Um Beides zu vermeiden kommt der suPAR-Wert ins Spiel.

Bislang ist die Nephrologie, die sich eingehend mit der Gesundheit der Nieren beschäftigt, der Schwierigkeit ausgesetzt, dass sie erst dann den Abbau der Funktion wissenschaftlich beobachten kann, wenn der Schaden bereits angerichtet ist. Ein Forscherteam sorgt jetzt allerdings für einen Freudenschrei unter den Medizinern. Sie eruierten, dass ein hoher Blutwert des sogenannten suPAR ein erhöhtes Risiko für ein noch einsetzendes chronische Nierenleiden indiziert. Wird die Vorsorge duch diese Erkenntnis deutlich einfacher?

Das suPAR

Auf den Podozyten, einer Zellart, die sich in der Niere befindet, setzen sich sogenannte Urokinase-Rezeptoren an. Die Abkürzung uPAR wurde für sie gefunden. Wenn diese allerdings außerhalb der Zellmembran vorkommen und somit frei im Blut zirkulieren, spricht man von suPAR. Das s steht für soluble, was löslich bedeutet. Der suPAR-Wert wird auch bei einigen Krebserkrankungen gemessen.

Für die zugrundeliegende Studie wurden Daten von mehr als 2200 Patienten analysiert, die in der sogenannten Emory Cardiocascular Biobank erfasst wurden. Im Schnitt waren die Probanden 63 Jahre alt. Die Nierenfunktion dieser Studienteilnehmer wurden anhand der glomerulären Filtratationsrate erfasst. Dies ist ein Standardverfahren, das um die Messung des suPAR ergänzt wurde. Die Forscher teilten die Probanden in vier unterschiedliche Gruppen, die je nach Nierenfunktion eingeteilt wurden.

Nach 5 Jahren hatten zwölf Prozent der Probanden, die in den Gruppen mit der niedrigsten suPAR-Wert Konzentration angesiedelt waren, ein chronisches Nierenleiden. In den höheren Gruppen lag die Zahl der Betroffenen bei 41 Prozent. In einer weiteren Studie untersuchten die Forscher den Zusammenhang zwischen dem suPAR-Wert und einem chronischen Nierenleiden erneut. 347 HIV-positive Frauen nahmen an der Studie teil. Auch in dieser Gruppe wurde beobachtet, dass bei jenen Frauen, die einen höheren suPAR-Wert aufwiesen, das Nierenleiden verstärkt vorkam.

SuPAR als Revolution der Vorsorge?

Diese Hinweise können die Vorsorge für Risikopatienten entscheidend verbessern. Würden die Betroffenen frühzeitig von dem bestehenden Risiko wissen, könnten sie in Form von gesunder Ernährung, Diäten und weiteren Maßnahmen dieser Entwicklung entgegen wirken. Auch für mögliche Nierenspender wäre diese Vorsorgemethode eindeutig sinnvoll. Wissenschaftler gehen darüber hinaus davon aus, dass der suPAR-Wert nicht nur ein Marker, sondern auch ein Verursacher der Nierenprobleme sein könnte und daher durch eine gezielte Senkung auch zu einer verbesserten Gesundheit beitragen könnte.

 

Syphilis-Fälle nehmen in Deutschland deutlich zu – Er- und Aufklärung!

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


In den vergangenen drei Jahren haben Experten einen „sehr auffälligen“ und vor allem beunruhigenden Anstieg von Syphilis-Neuinfektionen in nahezu allen Industrieländern verzeichnen müssen. Das Robert-Koch-Institut (RKI) veröffentlichte in seinem Infektionsepidemiologischen Jahrbuch die aktuellen Zahlen und versuchte, die Ergebnisse zu deuten.

Was genau ist Syphilis, wie kann man sich anstecken und welche Therapiemöglichkeiten gibt es?

Syphilis ist eine bakterielle Erkrankung des Menschen, die durch den Erreger Treponema pallidum hervorgerufen wird. Das Symptombild verläuft typischer Weise in drei Stufen, welche ohne Therapie unweigerlich aufeinander folgen. In der ersten Stufe treten vorerst schmerzlose Geschwüre im Genitalbereich auf, welche sich dann in der zweiten Stufe in Form von Knötchen und Hautausschlägen auf den kompletten Körper ausweiten. Im Endstadium befällt der Erreger dann die inneren Organe, Muskel, Knochen und letztendlich auch das zentrale Nervensystem, was zu dramatischen Ausfallerscheinungen führt und mitunter lebensbedrohlich werden kann.

Je früher die Infektion bei einem diagnostischen Test erkannt werden kann, desto milder und kurzweiliger fällt die Therapie aus, welche aus einer Behandlung mit Antibiotika wie Penicillin besteht. Wichtig ist vor allem der Vorsorgetest im Rahmen der Schwangerschaftsdiagnostik, um das ungeborene Kind vor einer Übertragung noch in der Gebärmutter zu schützen. Der häufigste Infektionsweg ist der ungeschützte Geschlechtsverkehr, den neusten Zahlen nach zu urteilen vor allem der zwischen Männern. Prinzipiell kann der Erreger aber auch über das Blut und von der Mutter zum Kind noch während der Schwangerschaft übertragen werden.

Die neusten Zahlen des RKI zum Thema Syphilis

Die Experten verzeichneten vom Jahr 2010 auf das Jahr 2011 einen Anstieg von 22 Prozent der Neuinfektionen mit dem Syphilis-Erreger in Deutschland. Dieser Trend setzte sich weiter fort, denn von 2011 bis 2012 stieg die Infektionsrate um weitere 19 Prozent. Ein Ende scheint nicht in Sicht – auch im aktuellen Kalenderjahr ist bereits ein Anstieg der Neuinfektionen zu verzeichnen. Die am meisten gefährdete Bevölkerungsgruppe für diese steigende Zahl an Neuinfektionen scheinen Männer zu sein, die sexuelle Kontakte zu anderen Männern haben. Zwar stieg die Zahl der Ansteckungen mit Syphilis bei den Frauen dramatischer an als beim starken Geschlecht, jedoch erreichten die homosexuell aktiven Männer den größten absoluten Zuwachs.

Selten hingegen konnten Neuinfektionen unter heterosexuell aktiven Menschen festgestellt werden. Auch die Rate der Infektionen von Neugeborenen war extrem niedrig, was der flächendeckenden Schwangerschaftsvorsoge verschuldet bleibt. Die Gründe für die beunruhigenden Zahlen der vergangenen Jahre liegen noch im Dunklen und lassen Raum für Spekulationen: Ist es der sorglose Umgang mit ungeschütztem Geschlechtsverkehr auf Grund von modernen HIV-Therapien? Oder die leichtere Verfügbarkeit von vielen wechselnden Sexualpartnern durch das Internet? Eine weitere Hypothese nimmt an, dass der Syphilis-Erreger sich über die Zeit hinweg – ähnlich wie ein Grippevirus – verändert und somit auf Phasen mit fallenden Infektionsraten immer solche mit steigenden Neuinfektionszahlen folgen.

 

Krebs – die Schwerionentherapie

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


Neben Herz-Kreislauferkrankungen ist Krebs die zweithäufigste Todesursache. Jährlich kommen in Deutschland etwa 350.000 neue Fälle dazu. Gut die Hälfte ist nicht therapierbar. Häufig haben sich bereits Metastasen, also Tochtergeschwüre, gebildet. Aber auch ein bedeutender Teil der Patienten ohne Metastasen kann aus verschiedenen Gründen nicht mit Chemotherapie oder konventioneller Bestrahlung behandelt werden. Ein Grund kann beispielsweise sein, dass der Tumor zu nah an inneren Organen liegt und somit nicht operabel ist. Eine hochdosierte Strahlenbehandlung würde das gesunde Gewebe zu stark belasten. Hier kommt eine neue Krebstherapie ins Spiel. Dabei werden Tumore mit geladenen Teilchen, wie Protonen und vor allem den schwereren Kohlenstoffionen bestrahlt – die Schwerionentheraphie.

Was ist die Schwerionentherapie?

Ziel jeder Krebstherapie ist es, alle Tumorzellen zu zerstören. Ist ein chirurgischer Eingriff nicht möglich, dann muss der Tumor durch Strahlung so geschädigt werden, dass er nicht mehr weiter wächst und sich im Idealfall auflöst. Die Schwerionentherapie wurde am GSI Helmholtzzentrum für Schwerionenforschung in Darmstadt entwickelt. Dort wurden in langjährigen strahlenbiologischen und technischen Vorarbeiten die Voraussetzungen für erste klinische Schwerionen-Therapieanlagen geschaffen. Auch ein Testprojekt mit 300 Probanden wurde am GSI erfolgreich durchgeführt. An der Heidelberger Uniklinik wurde 2009 das weltweit erste Ionenstraltherapiezentrum (HIT) eröffnet. Das Gerät ist riesig und 600 Tonnen schwer. Herzstück ist der Teilchenbeschleuniger.

Die Teilchen werden durch riesige Magneten auf 75 Prozent Lichtgeschwindigkeit beschleunigt. Mit dem Teilchenstrahl werden dann die Tumore beschossen. Eingesetzt bei einigen seltenen Schädeltumoren wird versucht, die positiven Erfahrungen auch auf andere Krebsarten zu übertragen. Der Tumor wird durch einen Strahl aus ionisiertem Kohlenstoff beschossen. Auch ein Mix unterschiedlicher Ionen kann eingesetzt werden. Schwere Ionen haben aber gegenüber Photonen den Vorteil, dass sie erst am Ende der Teilchenbahn die größte Energiedosis an das Körpergewebe abgeben. Gesundes Gewebe wird so nicht geschädigt, da die Teilchen exakt den Tumor treffen und ihn zerstören. Am HIT gibt es einige Plätze mit festen Strahlenquellen und Gantry, eine voll bewegliche, um 360° drehbare Bestrahlungsquelle.

Welche Vorteile hat sie?

Der gravierende Unterschied zu normaler Strahlentherapie ist, dass bei der Schwerionentherapie nur der Tumor beschossen wird. Die Teilchen werden so beschleunigt, dass sie beim Tumor stoppen und nur dort zerstören, wo sie sollen. Diese lokale Dosisabgabe nennt man auch den Bragg-Peak. Er lässt sich sehr exakt berechnen. Bei herkömmlicher Strahlentherapie werden Röntgen- bzw. Gammastrahlen eingesetzt. Diese Strahlung besteht aus kleinen Lichtteilchen, den Photonen. Die konventionelle Bestrahlung wird daher auch als Photonenbestrahlung bezeichnet.

Sie geht durch den Körper und schädigt so auch das gesunde Gewebe. Die Bestrahlung mit Ionen ist also nicht nur besonders effektiv, sondern auch schonend. Die Erfolge geben den Forschern recht: Immer mehr Krebs-Patienten können von schwer erreichbaren oder Tumoren, die schwer zu zerstören sind, geheilt werden.

 

Lagerung und Transport von Stammzellen zur Limbus-Stammzelleninsuffizienz

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


War es früher nicht möglich, eine Erblindung zu heilen, so wurden im Laufe der Zeit Verfahren entwickelt, die eine Erblindung zu heilen versprechen. Nun hoffen Forscher, mit der Möglichkeit der Lagerung und des Transports von Stammzellen einen großen Schritt bei der Behandlung der Limbus-Stammzelleninsuffizienz erzielt zu haben.

Ursachen einer Limbus-Stammzelleninsuffizienz

Als Risikofaktor für die Limbus-Stammzelleninsuffizienz gilt eine übermäßige UV-Strahlung. Auch eine Verätzung durch Chemikalien kann zur Erblindung führen.

Stammzellenbehandlung

Die Stammzellenbehandlung existiert bereits seit den 1990er Jahren. Jedoch durfte der Patient nur auf einem Auge erblindet sein, da die Stammzellen aus dem gesunden Auge gewonnen wurden. Das Augenmerk hat sich deshalb in zunehmendem Maße auf die Verwendung von oralen Zellen gerichtet. Durch die Verwendung von Stammzellen müssen Patienten nicht mit immun-supressiven Medikamenten behandelt werden.

Verbesserung der Lagerung und des Transports der Stammzellen

Die Forscher versuchten insbesondere, die Lager- und Transportmöglichkeiten der Stammzellen zu verbessern, damit eine Behandlung zu jeder Zeit an jedem Ort möglich wird. Denn es gibt nur wenige Spezialzentren, welche eine solche Behandlung derzeit anbieten. Eine optimale Lagertemperatur wird auf 12 bis 16 Grad Celsius geschätzt. Auch erbliche Faktoren spielen eine Rolle. Genaue Zahlen über die Anzahl der Patienten gibt es nicht. Allein in Indien leiden 1,5 Millionen Menschen an dieser Krankheit.

Hohe Erfolgsquote der Behandlung

250 Personen, die durch eine Limbus-Stammzelleninsuffizienz erblindet sind, wurden bislang mit dieser Methode behandelt. 75 Prozent dieser Personen konnten erfolgreich behandelt werden. Damit ist eine deutliche Schmerzlinderung – Patienten mit einer Limbus-Stammzelleninsuffizienz leiden unter teils sehr starken Schmerzen – und ein deutlich verbessertes Sehvermögen gemeint.
Neben Erkenntnissen zu optimalen Lager- und Transportmöglichkeiten haben Forscher zudem Bereiche der Mundhöhle identifizieren können, deren Gewebe sich für die Behandlung am besten eignet. Die Spezialzentren können das Gewebe dazu verwenden, Eigengewebe zu kultivieren, um es dann Betroffenen weltweit zur Verfügung stellen zu können.

 

Ärzte warnen vor Einnahme von Triptanen bei Migräne

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


Kennen Sie das? Rasende Kopfschmerzen, meist einseitig, Lichtempfindlichkeit, Übelkeit. Selbst Flüstern hört sich an, als würde Sie jemand mit dem Megafon anschreien? Dann gehören Sie vermutlich zu den zehn Prozent der Deutschen, die unter Migräne leiden.

Was versteht man unter Migräne?

Wie gesagt – mindestens jeder zehnte Mensch in Deutschland erkrankt im Laufe seines Lebens an Migräne. Frauen trifft es drei Mal so häufig wie Männer. Das Wort Migräne kommt aus dem Griechischen und bedeutet halber Kopf. Denn unter Migräne versteht man einen halbseitigen, periodisch wiederkehrenden, anfallartigen, pulsierenden Kopfschmerz. Zusätzlich sind noch Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Licht- und/oder Geräuschempfindlichkeit möglich. Vier bis maximal 72 Stunden dauert die Migräne normalerweise, aber mindestens ein Prozent der Bevölkerung entwickelt eine chronische Migräne, bei der oft kein Medikament hilft.

Oftmals sind die Betroffenen für mehr als 15 Tage im Monat davon betroffen. Sie leiden dann häufig in abgedunkelten Räumen vor sich hin. Bei jedem zehnten Patienten kündigt sich eine Migräneattacke mit einer sogenannten Aura an, die Stunden vor dem Anfall auftritt. Bei dieser Migräneaura treten oft optische oder sensorische, aber gelegentlich auch motorische Wahrnehmungsstörungen auf. Derzeit ist Migräne als Erkrankung nicht heilbar, aber es gibt Möglichkeiten der Linderung.

Was sind Triptane?

Triptane gelten als Wundermittel gegen Migräne und werden zur Therapie akuter Migräneanfälle mit und ohne Aura eingesetzt. Im Gegensatz zu klassischen Schmerzmitteln wie Acetylsalicylsäure oder Paracetamol sind nahezu alle Medikamente mit Triptanen verschreibungspflichtig. Allerdings kommen immer mehr freiverkäufliche Präparate auf den Markt. Das hat zwei entschiedene Nachteile: Zum einen zahlen die gesetzlichen Krankenkasse ausschließlich Präparate, die verschreibungspflichtig sind. Die Kosten werden bei freiverkäuflichen Medikamenten also voll auf den Patienten abgewälzt.

Das geht für Migränepatienten ganz schön ins Geld, denn pro Tablette fallen zwei bis fünf Euro an und man muss mit der Einnahme von mehreren Tabletten pro Migräneanfall rechnen. Zum anderen sollte die Therapie nicht selbstinduziert sein. “Triptane erfordern eine ärztliche Begleitbehandlung”, sagt Hartmut Göbel, Migräne-Experte und Leiter der Schmerzklinik Kiel. Triptane dürfen nur eingenommen werden, wenn die ärztliche Diagnose „Migräne“ lautet. Bei freiverkäuflichen Medikamenten kann das nicht sichergestellt werden.

Warum warnen Ärzte vor Triptanen?

Falsch angewendet schaden Triptane mehr, als sie nutzen. Bei Daueranwendung beispielsweise besteht die Gefahr der Entwicklung eines arzneimittelinduzierten Kopfschmerzes. Das kann schon passieren, wenn das Medikament an mehr als zehn Tagen im Monat eingenommen wird. Allgemeine und typische Nebenwirkungen der Triptane sind: leichtes Schwächegefühl, Schwindel, Missempfindungen/Kribbeln, Wärme- oder Hitzegefühl, leichte Übelkeit. Für einige Patienten sind Triptane sogar gefährlich, also kontraindiziert, weil sie den Blutdruck erhöhen. Um das Risiko für einen Herzinfarkt nicht zu erhöhen, sollten Menschen mit Herz- und Gefäßproblemen auf Medikamente mit Triptanen verzichten. In der Schmerzklinik Kiel beispielsweise werden die Patienten, die Triptane nehmen, regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen einbestellt.

Welche Alternativen gibt es?

Eine ganz neue Therapie sind Stromstöße, die über Elektroden unter der Haut ins Hirn geleitet werden. Die ersten Tests waren durchaus vielversprechend. Das Gerät wird ähnlich wie bei einem Herzschrittmacher unter die Haut implantiert und Stromstärke, -dauer und -intervalle individuell angepasst. Medikamentös können Schmerzmittel wie Acetylsalicylsäure oder Ibuprofen und sogenannte Mutterkornalkaloide helfen.

Diese sollten natürlich auch nicht über einen längeren Zeitraum  hinweg und zudem hoch dosiert eingenommen werden. Wichtig ist auch Regelmäßigkeit in das eigene Leben zu bringen: regelmäßig essen, schlafen und Sport treiben. Schmerzzentren haben damit sehr gute Erfahrungen gemacht und empfehlen eine geregelte Lebensweise. Eine besondere Bedeutung haben hier auch regelmäßige Entspannungsphasen mit entsprechen Übungen. Die progressive Muskelrelaxation nach Jacobsen beispielsweise wird in diesem Zusammenhang immer wieder empfohlen.

 

„Wirbelsäulenoperationen sind zu 80 Prozent überflüssig": Ein Interview mit Dr. med. Martin Marianowicz

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


Rückenschmerzen sind in Deutschland eine Volkskrankheit: 85 Prozent der Deutschen leiden zumindest einmal in ihrem Leben an Rückenschmerzen. Aber eine Operation ist trotz Bandscheibenvorfall nicht unbedingt die richtige Lösung, sagt der Wirbelsäulenspezialist Dr. Martin Marianowicz. Im ersten Teil seines Interviews mit Vistano erklärt er woran das liegt.

Vistano: In keinem anderen Land Europas wird so viel am Rücken operiert wie in Deutschland: über 400.000 Operationen jährlich und die Tendenz ist steigend. Wie kommt es dazu?

Marianowicz: Deutschland ist sogar weltweit führend und das verheerende sind nicht die absoluten Zahlen, sondern die Art der vorgenommenen Rückenoperationen. Während früher nur etwa zehn Prozent der Rückenoperationen instrumentalisiert waren, wird heute bei über 50 Prozent der Operationen mit Versteifungen, Prothesen, Platten oder Schrauben gearbeitet. Der Grund für diese zunehmende Instrumentalisierung und die steigenden Operationszahlen ist einfach: Mit einer konservativen Behandlung bei Rückenbeschwerden wird in drei Monaten nur 30 Euro verdient, aber eine Operation ist zwischen 2.000 und 15.000 Euro wert. So fördert unser fatales medizinisches Entlohnungssystem die zunehmenden Operationszahlen.

Vistano: Wie kommt es, dass Sie als Orthopäde in einem solchen System die konservative Behandlung trotzdem bevorzugen?

MarianowiczIch bevorzuge die konservative Behandlung, weil sie richtig ist und 80 Prozent der Wirbelsäulenoperationen überflüssig sind. Das wussten wir bereits vor 30 Jahren, als ich mein Examen ablegte. Schließlich klingen 80 bis 90 Prozent der konservativ behandelten Bandscheibenvorfälle nach sechs bis zwölf Wochen wieder ab. Also hat ein Operateur nichts an vorderster Front im Kampf gegen Rückenschmerzen verloren. Schließlich geht es bei der Heilung der Wirbelsäule nicht darum die Bilder zu verbessern, sondern dem Körper beim Arrangement mit der eigenen Degeneration zu helfen.

Vistano: Aber können falsche Behandlungen, wie überflüssige Operationen, nicht durch bildgebende Methoden wie CT oder MRT ausgeschlossen werden?

MarianowiczIn Deutschland wird oft ein schnelles Bild gemacht und daraus resultierend eine schnelle Übertherapie angesetzt. Denn zum einen weiß der Operateur, dass die Zeit sein größter Feind ist, und zum anderen gibt es allein in einer Stadt wie München ebenso viele Kernspintomografen wie in ganz Norditalien. Aber Bilder sind nicht ausschlaggebend für eine korrekte Diagnose, da 60 Prozent der an chronischen Rückenschmerzen leidenden Patienten keinen Befund auf den Bildern vorweisen. Diese Patienten leiden an sogenannten unspezifischen Rückenschmerzen. Auf der anderen Seite ist es möglich trotz Befund schmerzfrei zu sein, denn es handelt sich hierbei nicht automatisch um eine Krankheit, wie zum Beispiel in der Onkologie. Wir stehen also vor dem Problem, dass unser System zu bildhörig ist.

Vistano: Wenn Bilder nicht zwingend ausschlaggebend für die richtige Diagnose sind, wie sollte Ihrer Meinung nach eine richtige Diagnose gestellt werden?

MarianowiczUm eine Verdachtsdiagnose stellen zu können reicht zunächst ein 15 minütiges Gespräch. Ich stelle meinen Patienten hierfür zweimal 20 Fragen. Erst danach kann ich meine Diagnose anhand der Bilder überprüfen. Die meisten meiner Patienten kommen zu mir, weil ihnen zu einer Operation geraten wurde und sie eine zweite Meinung brauchen. Über 50 Prozent von ihnen wurden vorher nie ausgezogen. Auch hierfür ist unser medizinisches System verantwortlich, denn den Ärzten bleibt nicht die Zeit für ein Gespräch. Ohne ein Gespräch ist eine Diagnose allerdings nicht möglich, denn der Schmerz entsteht im Kopf, auch wenn die Ursache im Rücken liegt.

Nachdem Herr Dr. Marianowicz im ersten Teil des Interviews über Diagnosen von Rückenschmerzen gesprochen hat, erklärt er im zweiten Teil, welchen Einfluss die menschliche Psyche auf das Schmerzempfinden hat und wie ein Patient seinen Rücken selbst heilen kann.

 

„Menschen sind keine Treibhaustomaten“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch

„Medizinische Therapien sollten nicht verharmlost werden“: Ein Interview mit Dr. med. Michael Hauch


Logopädie, Ergotherapie und Physiotherapie stehen heute bei vielen Kindern an der Tagesordnung. Der Kinder und Jugendarzt Dr. Michael Hauch begann seinen medizinischen Werdegang mit einem Studium an der Kinderklinik der Universität Düsseldorf, um danach in New York auf einer Kinderkrebsstation weitere praktische Erfahrungen zu sammeln. Als einer der ersten niedergelassenen Kinderärzte in Düsseldorf bietet er seit nunmehr 23 Jahren Familien der unterschiedlichsten sozialen Milieus ganzheitliche Therapie und umfangreiche Diagnosen.

In seinem kürzlich erschienenen Buch “Kindheit ist keine Krankheit” (Fischer Verlag) erklärt er, weshalb viele unnötige Therapien verschrieben werden und wie man dieser Therapiewut entgegen wirken kann. Im ersten Teil seines dreiteiligen Interviews mit Vistano erklärt er, wie es zu den hohen Therapiezahlen kommt.

Vistano: Es gibt kumulative Studien und statistische Berechnungen aus denen hervorgeht, dass über 40 Prozent der Jungen und etwa 30 Prozent der Mädchen bis zum Alter von 15 Jahren wenigstens eine funktionelle Therapie, sprich Logopädie, Ergotherapie oder Physiotherapie verordnet bekommen. Wie erklären Sie sich diese hohen Zahlen?

Hauch: Zunächst möchte ich anmerken, dass diese Auswertung nur Zahlen wiedergeben. Es steht nicht darin, wo die Therapien stattfinden, wie die häuslichen Verhältnisse sind, ob es Ein-Eltern-Familien sind, Geschwisterkinder gibt und ähnliches. Um diese Zahlen also zu verstehen, muss man die Hintergründe sehen und sagen, dass sich das Umfeld in dem Kinder aufwachsen gegenüber früher grundlegend geändert hat. Das häusliche Umfeld ist heute ständigen Veränderungen ausgesetzt, die Eltern stehen ständig unter Spannung. Es herrscht in vielen Bereichen, beispielsweise Beruf und Partnerschaft, eine große Unsicherheit, die durch massive Einflussnahmen von außen und das Internet verstärkt wird.

Auch unsere gesellschaftlichen Ansprüche haben sich massiv geändert. Kinder sind in der heutigen Zeit ein sehr kostbares Gut für die Wirtschaft. Dementsprechend müssen Kinder funktionieren und gut ausgebildet sein, damit sie hinterher dem Arbeitsmarkt möglichst viel Intelligenz und Arbeitskraft zur Verfügung stellen. Dazu kommt, dass wir den Hang zu einer Art Perfektionismus haben. So muss das Kind sich immer nach einem bestimmten Schema entwickeln. Ähnlich wie Treibhaustomaten, die sich alle gleich entwickeln, aber Menschen sind keine Treibhaustomaten.

Zusätzlich leben wir heute in einer Zeit, in der wir meinen, dass wir alles reparieren oder heilen können. Wir denken, dass wir die Mittel haben, wenn wir nur wollen, fördern und Therapien machen, alles ins „Normale“ zu kehren. Damit wir das Kind haben, was sich genau entlang der Normen entwickelt. Das gibt es so einfach nicht.

Vistano: Wer ist Ihrer Meinung nach für die zunehmende Therapiewut in Deutschland verantwortlich? Geht das immer von den Eltern aus? Liegt es eher an den ErzieherInnen und LehrerInnen oder vielleicht an den Therapeuten selbst?

Hauch: Die meisten Eltern kommen in meine Praxis, weil sie nicht nur eine Therapieempfehlung, sondern eine Therapieaufforderung haben. Diese geht in den meisten Fällen von Erzieherinnen oder Grundschullehrerinnen aus. Nicht zuletzt weil sie sich nicht anders zu helfen wissen, wenn die Eltern nach einem Grund für die schlechten Leistungen des Kindes fragen. Sehr selten kommen Eltern von sich aus mit irgendeiner Frage und dies ist im Großen und Ganzen auf die ersten zwei Lebensjahre des Kindes beschränkt. Und selbst dann ist es oft so, dass die Eltern etwas gelesen haben. „Da steht aber drinnen, dass er mit einem Jahr laufen können muss, das kann er aber noch lange nicht.“

Der Einfluss von Außenstehenden geht mittlerweile sogar soweit, dass wir zumindest in Großstädten eine solche Flut an Therapeuten haben, die knapp an Patienten sind und sich deshalb Kindergärten und Grundschulen anbieten, um die Kinder hier zu untersuchen. Hierbei sehen diese dann bei 40 bis 50 Prozent der Kinder Therapiebedarf. Das gilt besonders für angestellte Therapeuten in Großpraxen. Denn sie sind angehalten, das Maximum, was ihnen die Krankenkassen zahlen, auszureizen und doch noch einmal eine Rezeptverlängerung zu beantragen, auch wenn sie denken, dass die Therapie eigentlich nichts bringt. Mit solchen Therapeuten arbeite ich nicht zusammen.

Vistano: Wenn man davon ausgeht, dass viele der verordneten Therapien überflüssig sind, stellt sich die Frage nach dem Warum. Weshalb verordnen trotzdem noch viele Kinder- und Jugendärzte so häufig Therapien?

Hauch: Es gibt keine funktionelle Therapie ohne eine Verordnung vom Arzt. Hierfür gibt es mehrere Gründe.

Erstens lernen Ärzte den richtigen Umgang mit Therapien nicht in ihrer Ausbildung – weder im Studium, noch in der Facharztausbildung. In der Facharztausbildung betreuen sie Kinder und Familien nicht langfristig. Sie sehen ein Kind einmal und selbst chronisch kranke Kinder sehen sie ein- oder zweimal. Aber sie betreuen ja keine Familie von Geburt an, die vielleicht drei oder vier Kinder hat, so wie ich.

Zusätzlich kommen sie aus dem Studium und der Facharztausbildung mit einer Allmachtvorstellung. „Ich kann allen helfen, ich kann alles heilen, ich kann alles tun. Die Medizin kann alles geraderücken.“ Um so zu handeln wie ich, brauchen sie nicht nur eine sehr gute Ausbildung und gute Lehrer, sondern auch ganz viel Erfahrung. Mein damaliger Lehrer vertrat genau meine heutige Einstellung und lehrte mich, dass man nichts im Gehirn umpolen kann, was nicht vom Gehirn kommt.

Außerdem kommt ein gewisser Druck von den Eltern. Einige Eltern sagen dann: „Wenn Sie mir das Rezept nicht ausstellen, gehe ich eben zum Hausarzt, der stellt es schon aus.“ Wenn Eltern mit mir nicht zufrieden sind, sage ich, dass es 45 Kinderärzte in Düsseldorf gibt. Ich persönlich kann allerdings gut damit leben, dass unzufriedene Eltern wechseln.

Auch der wirtschaftliche Druck spielt eine große Rolle. Wir werden ja mehr oder weniger pauschal bezahlt. Ob ich einer Mutter kurz zuhöre und auf einen Computerknopf drücke, um die Verordnung auszudrucken, was mich kaum drei Minuten kostet, oder ob ich mindestens eine Stunde Zeit in Gespräche mit Eltern, Erzieherinnen oder Lehrerinnen und Untersuchungen investiere, ich bekomme das gleiche Geld. Unter dem heutigen Druck, der auf uns lastet, versuchen einige Ärzte möglichst schnell und effizient zu arbeiten.

Dazu kommt die Einstellung, dass irgendjemand dem Kind ja helfen muss. Andere Ärzte sagen dann, dass zu Hause nichts passiert und das schrecklich ist. In der Therapie hat das Kind dann wenigstens einmal in der Woche für eine Stunde jemanden, der liebevoll mit dem Kind umgeht und es umsorgt. Also der Gedanke, dass man als Arzt helfen muss. Dass das keine Hilfe ist, wenn ich das falsche aufschreibe, ist den meisten Ärzten vielleicht nicht bewusst.

Den letzten Grund sehe ich darin, dass wir das, was eigentlich hilft, wie Erziehungsbeihilfe, Hilfe durch das Jugendamt oder Elternaufklärungskurse, nicht verordnen können. Und selbst wenn ich mal eine pädagogische Maßnahme haben will, die gibt es beispielsweise bei bestimmten Sprachstörungen in Form von bestimmten Elterntrainings, fallen diese nicht unter Therapie sondern Pädagogik. Hier muss ich extrem komplizierte Einzelanträge stellen, das ist sehr viel Arbeit, für die ich natürlich auch keinen Pfennig bekomme.

Nachdem Herr Dr. Hauch in diesem ersten Teil des Interviews über die Gründe für überflüssige Therapien gesprochen hat, beantwortet er im zweiten Teil die Frage, ob diese Therapien einen Nutzen haben oder eher schädlich sind.

Buchautor: Michael Hauch  Foto: Thekla Ehling