Selbstverurteilung in der Alkoholsucht
Alkoholsucht
In eigener Sache: In diesem Artikel berichte ich über meine eigene Erfahrung, die ich zum Thema “Alkoholabhängigkeit” gemacht habe. Ich denke, es gibt viel Literatur über wissenschaftliche Erkenntnisse und über therapeutische Ansätze, um aus einer Sucht auszusteigen. Doch eigene Erfahrungen, wirkliches Erleben einer Sucht und des Ausstiegs, haben nochmal einen ganz anderen Stellenwert. Erfahrungen und Wege unterscheiden sich. Sie sind genauso vielfältig, wie die Menschen selbst.
“Ich bin das Problem!”
Neulich las ich in einem Social-Media Beitrag die Aussage: „Ich bin das Problem!“, geschrieben von einem Menschen, der sich selbst für seinen Alkoholkonsum verurteilt. Doch dies ist ein Glaubenssatz, und der kommt nicht vom Alkohol!
Dieser Glaubenssatz war vorher schon da!
Oft wird im Zusammenhang mit Süchten von „Selbstmitleid“ und „Opferrolle“ gesprochen. Und ich kann verstehen, wenn diese Aussage Empörung auslöst. Ja, früher hätte mich das auch sehr wütend gemacht, denn ich bin selbst eine sogenannte „trockene Alkoholikerin“. Doch heute kann ich den Wahrheitsgehalt dieser Aussagen bestätigen. Es geht um das „Problem“ hinter dem „Problem“.
Eine Sucht hat nie mit Disziplinlosigkeit oder Schwäche zu tun, sondern tatsächlich mit Opferbewusstsein. Ich erlebte es als eine Strategie, wenn meine erlebte Ohnmacht, mein Unvermögen „richtig“ zu sein – wobei ich dies über die Erwartungen meiner Mitmenschen definierte unerträglich wurde. Ich griff zur Flasche, wenn ich nicht fühlen wollte, was ich fühlte, wenn ich nicht denken wollte, was ich dachte. Und ich griff zur Flasche, weil ich mich selbst dafür hasste, dass ich zur Flasche griff. Doch hinter all dem steht nach meinem heutigen Verständnis eine, die zur wird. Die Suche nach sich selbst.
In der Kindheit verlieren wir uns
Sehr viele Menschen beginnen bereits in frühester Kindheit, durch Druck und Erwartungshaltung der Menschen um sie herum, sich selbst zu verlieren. Ich habe in einem anderen Kapitel bereits darüber gesprochen, wie und warum wir uns von uns selbst trennen. Wir wollen dazu gehören, wir wollen geliebt werden. Und dann begreifen wir, dass es das nicht umsonst gibt, dass wir sein sollen, wie uns andere Menschen haben wollen. Erfüllen wir diese Erwartungen und Bedingungen nicht, erleben wir Ablehnung, die so schmerzhaft ist, dass wir uns dazu entscheiden, das nie wieder (in diesem Maße) fühlen zu wollen. Viele Suchtkranke sind hochsensible Menschen, die mit den Verletzungen und Entwürdigungen im Leben und ihrer Kindheit nicht klar kommen, bzw. diese nicht verarbeitet (befriedet) haben. Dafür haben sie ein erstaunliches Portfolio an “Selbstschutzprogrammen” entwickelt, um diese Wunden nicht fühlen zu müssen. Allerdings sind diese Selbstschutzprogramme auf lange Sicht zerstörerisch für Körper und Geist, nicht nur die „substanzgebundenen“ Süchte, wie Alkohol, Drogen- oder Medikamentensucht. Kurzfristig bringt ein Suchtmittel sicherlich die gewünschte Erleichterung. Aber langfristig gleicht es einem Suizid, der sich über Jahrzehnte hinziehen kann, begleitet von Gefühlen wie Schuld, Scham, Kleinheit und die Überzeugung, nichts wert zu sein, schwach zu sein, unfähig, bedeutungslos…
Was war zuerst da?
Manche Menschen fragen an dieser Stelle: „Was war denn nun zuerst da? Das Huhn oder das Ei?“ Gemeint ist wohl die Frage, ob sich jemand ablehnt, weil er/sie süchtig ist, oder sich die Sucht entwickelt hat, weil er/sie sich ablehnt. Das mag manchmal verschwimmen. Denn ein Mensch mit einer Sucht schämt sich für diese Sucht, was dann… äh… nicht wirklich zum Aufbau von Selbstbewusstsein und Selbstliebe beiträgt. Doch ohne Selbstablehnung, also mit einem stabilen Selbstbewusstsein, sind die Chancen verschwindend gering, dass sich eine so zerstörerische Sucht entwickelt.
Es ist also ein Kreis, oder besser gesagt eine Spirale, die stetig nach unten führt. Die beginnt sich meist in frühester Kindheit zu drehen, selten als solche wahrgenommen, langsam in großen Kreisen, dann immer schneller und enger und steiler nach unten, bis entweder der Überlebensinstinkt einsetzt, somit ein Ausstieg möglich wird, oder…
Aber es gibt eben auch solche „Selbstschutzprogramme“, die nicht substanzgebunden sind. Manche gehören dennoch zu den Süchten, z.B. Workaholic und die Spielsucht. Auch in auffälligen Persönlichkeitsstrukturen spiegeln sich ungeheilte Wunden, tiefste Verletzungen, Demütigungen und Traumata. Egal, ob es eine Tendenz zu narzisstischen Zügen gibt, zu histrionischem Verhalten, zu ängstlich-vermeidenden Strategien, zu abhängigen Anteilen (z.B. von anderen Menschen), ob jemand zu Borderline tendiert, zu Depressionen oder Manie:
überall findet sich ein destruktives Selbstbild, Selbstablehnung und Angst vor der Ablehnung im Außen. Und überall finden sich eben auch Strategien, um all diese negativen Gefühle zu verdrängen und dadurch zu verleugnen.
Per Autopilot
Das sind die Programme, Glaubenssätze, Gedankenmuster (ich nenne sie gern “Autopiloten”), die das eigene Leiden, die Verletzungen zudecken (sollen). Also ne Menge Vermeidungsstrategien, die uns einen ständigen Kampf gegen uns selbst kämpfen lassen. Und selbst wenn das Eltern-Kind-Verhältnis heute als gut und ausgeglichen, und glücklich, und normal, und ich-hatte-ne-super-Kindheit bezeichnet wird: Nope! Da gibt´s Verstrickungen, Verletzungen, Erniedrigungen, eine Menge unschöner Situationen und Erlebnisse, an die mensch sich einfach nur nicht erinnert (erinnern will)…
So entwickelt der Mensch eine Menge Verdrängungs- und Vermeidungsstrategien, wenn seelisch-er und/oder körperlicher Schmerz unerträglich wird. In extrem schwierigen Situationen, in denen Du Dich ausgeliefert fühltest, sicherten diese Strategien Dein Überleben. Gleichzeitig sorgten diese Strategien eben auch dafür, dass Du Dich selbst verlierst. Sich selbst zu fühlen bedeutet nun einmal auch, den Schmerz zu fühlen. Und genau das ist durch die Vermeidung und Verdrängung nicht mehr möglich. Vielleicht hast Du Dich irgendwann einmal bewusst zu dieser Trennung, oder „Abspaltung“ von Dir selbst entschieden. So vergisst Du im Laufe der Zeit nicht nur den Grund, sondern Du vergisst, dass Du überhaupt so eine Überlebensstrategie in Deinem System etabliert hast. Mal ganz davon abgesehen, dass es eh selten bewusst geschieht. Wenn Schmerz unerträglich wird, ist Verdrängung manchmal die einzige Überlebenschance.
Also zusammengefasst
Egal, ob süchtig oder nicht, die meisten Menschen lehnen sich selbst ab, halten sich für „nicht richtig“. Und in einer Sucht ist dieser Automatismus, der Dich glauben lässt, dass mit Dir etwas nicht stimmt, dass Du das „Problem“ bist, hoch aktiv. Das tut nicht nur höllisch weh, sondern macht eben auch extrem hilflos, da Du Dich mit Deinem Denker in Deiner Birne identifizierst und keinerlei Zweifel daran aufkommen lässt, dass Du tatsächlich schon als Individuum ein „Problem“ in dieser Welt bist. Und so mancher sucht sich dann eben einen „Freund“, der den Schmerz vergessen lässt, der keine Fragen stellt, der keine Erwartungen und keine Bedingungen mitbringt, der Dir eine Idee von „Normal sein“ mitbringt, von „richtig sein“, selbst wenn´s nur für einen Augenblick ist.
Für mich z.B. war der Alkohol immer der Freund, der mich tröstete, der mich lachen ließ, der mich umarmte, der meine Seele wärmte, mir einfach nur gut tat, weil er mir eine Idee von Selbstbewusstsein schenkte. Der erste Schluck war meist wie ein warmer, kuscheliger Mantel, der sich um meine Schultern legte, wie die liebende und nährende Umarmung, nach der ich mich sehnte.
Der Absturz kommt gewiss
Ich weiß nicht, wie es bei Dir ist, falls Du Dich in einer substanzgebundenen Abhängigkeit befindest. Aber ich musste zum Schluss erst weit unten sein, es musste mir auch körperlich schlecht genug gehen, damit es für mich nur noch die Wahl gab zwischen “Will ich mich totsaufen? Oder will ich endlich irgendwie von dem Zeug weg und leben?” Und es dauerte immerhin bis zu diesem Tag X
während meiner Langzeittherapie, dass ich mich, also aus tiefster Überzeugung für Letzteres entschied. Die 3-4 Entgiftungen (Kurzzeit) vorher waren mehr dem Umstand geschuldet, dass es mir körperlich so schlecht ging.
Nun, wie Du siehst, lebe ich, bin „furztrocken“ und fühl mich pudelwohl dabei. Und ja, selbst in der Entgiftung hatte ich immer noch das Gefühl, “die” wollen mir meinen Halt, meinen Freund wegnehmen, mir meinen Seelentröster entreißen, auch wenn mir durchaus klar war, dass mich dieser „Freund“ irgendwann umbringt. Es klingt paradox, ich weiß, aber genau so hab ich es empfunden. Und ich denke, so funktioniert das Wesen einer Sucht. Das Suchtmittel verkauft Dir ne Illusion, und nimmt als Bezahlung Dein Leben.
Wo ist denn da nun die Opferhaltung?
Ich habe nicht erkannt, dass ich mir das, was ich so vermisste, was ich so sehr gebraucht hätte, nur in mir selbst finden konnte. Im Gegenteil, ich habe es mir selbst verweigert, weil ich mich nicht für wertvoll genug hielt. Und gleichzeitig suchte ich es im Außen, erwartete, dass es mir andere Menschen geben. Damit gab ich die Verantwortung für mich selbst ab, und blieb in meiner Ohnmacht (ohne Macht), in meiner Opferrolle gefangen. Doch wie soll mich ein Mensch wertschätzen, anerkennen, ja sogar lieben können, wenn ich mich selbst zutiefst ablehne?
Fakt ist: Selbstablehnung hält auch Deine Mitmenschen auf Abstand. Diese (nachvollziehbare) Reaktion nimmst Du dann wahr, und erlebst sie als Ungerechtigkeit. Doch indem Du Deinem Außen, also anderen Menschen, Situationen und Ereignissen die Schuld an Deinem Leid gibst, verschanzt Du Dich in Deiner Opferrolle und beraubst Dich selbst jeglicher Handlungsfähigkeit. Also bleibt nur, so weiter zu machen, wie bisher?
Mache Dir immer wieder bewusst: Alkohol ist ein Nervengift, dass Kontrollmechanismen, Filter, Rationalität, Logik usw. lahm legt, Grenzen werden nicht mehr wahrgenommen und massiv über-schritten. Ein “Miteinander” ist kaum noch möglich. Die Aussage, dass man einen Alkoholiker fallen lassen muss, ist für mich stimmig! Auch mir musste es erst wirklich schlecht gehen, nicht nur körperlich, sondern auch im sozialen Umfeld, bevor ich den Willen hatte, aus der Sucht auszusteigen. Und wie tief so ein „ganz unten sein“ aussieht, ist auch wieder von der Prägung und der Wahrnehmung des Einzelnen abhängig. Da definiert jeder ein „Ganz unten“ eben anders. Ich war “heimliche Spiegeltrinkerin”, die nicht wirklich massiv auffiel (dachte ich zumindest), stieß dennoch immer mehr auf scheinbar “unerklärbare” Ablehnung, die heftig weh tat. Und so unbegründet war es aus heutiger Sicht natürlich nicht.
Fazit
Ein Mensch, der sich regelmäßig mit irgendwelchen Substanzen die Gefühle wegballert, ist in seiner Opferrolle gefangen. Doch es gibt Wege da raus. Wir entscheiden selbst, ob wir uns weiter als “Opfer unserer Umwelt” erleben, oder ob wir aus alten Mustern aus- und in ein freudvolles Leben einsteigen wollen. Und manchmal muss die Komfortzone erst fürchterlich unbequem werden, bevor ein Umdenken möglich wird.