ADHS aus Systemischer Sicht

ADHS aus Systemischer Sicht

ADHS aus systemischer Sicht

Wer sind diese ADHS Kinder? Sie zappeln. Sie stören. Sie bringen ihre Eltern, wie auch Lehrer an den Rand der Verzweiflung. Kinder und Jugendliche mit einer „Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung“ oder auch „Zappelphilipp-Syndrom“ genannt. Sie funktionieren einfach nicht.

Experten sprechen gar von einer „Generation ADHS. Niemals zuvor waren Kinder verhaltensauffälliger, haben die an sie gestellten Forderungen so radikal verweigert.

Was hat es mit dieser Massendiagnose ADHS auf sich?

Selten werden die wirklichen Beweggründe wahrgenommen, die im seelischen Erleben eines „unruhigen Kindes“ wirken – ganz zu schweigen von ihrer Bedeutung für die Neue Zeit. Haben wir doch den Mut uns ihrer Radikalität einmal zu stellen! Nehmen wir ihre Aufforderung an uns wahr! Sind wir bereit für eine Pädagogik des Herzens…?

In meiner Praxis erlebe ich wütend einfordernde Kinder, die körperlich wie geistig hyperaktiv sind – und daneben: überforderte und völlig verzweifelte Eltern. Für beide war der Weg bisher ein reiner Leidensweg. Diese unruhigen Kinder weinen schon als Babys ziemlich viel (oder auch sehr wenig) und sind in ihrem Getriebensein, ihrer Aggression und Impulsivität völlig ungehemmt. Als Kehrseite dominieren Depression und Angst. Damit sind die meisten Eltern überfordert. Sie passen in kein System. Stören sich an keinen Konventionen. Lassen sich nicht beruhigen; auch nicht überzeugen und schon gar nicht belehren. Etwas in ihnen ist in Rebellion – im absoluten Ausnahmezustand, und zwar dauerhaft. Diese Kraft in ihnen, die sie antreibt, ist für Eltern, Geschwister, Erzieher, Lehrer, wie auch Therapeuten schwer auszuhalten.

Nach wie vor dominiert in der Öffentlichkeit das medizinische Erklärungsmodell, das von einer genetischen Disposition ausgeht, die nicht heilbar wäre. Veränderungen im Gehirn führen zu einer Störung des Neurotransmitter-Systems. Die wiederum bewirkt, dass unruhige Kinder, sich wenig regulieren und steuern können. Wer den Leidensdruck und zähen Überlebenskampf von Familien mit hyperaktiven Kindern kennt, in den sich Eltern und Kinder tagtäglich verstricken, weiß, dass Medikamente mitunter notwendig und eine Erleichterung darstellen können. Doch auch mit Medikamenten finden unruhige Kinder nicht wirklich zu sich selbst. Es braucht eine Veränderung und Weitung des Blickwinkels, um zu erfassen, was unruhige Kinder seelisch bewegt.

Woher kommt ihre Beunruhigung? Worauf ist ihr Fokus gerichtet? Wer ihre tiefe Verzweiflung erlebt, weiß: Dieser extreme Zustand ist existentiell.

Können unruhige Kinder zur Ruhe kommen?

ADHS und die „unsichtbare“ Mutter

Sofia ist drei Jahre alt. Während ihre Mutter bereits bei mir in der Praxis sitzt, steht Sofia noch immer im Hausflur und schreit eindringlich.

Mutter und Tochter haben vor 15 Minuten das Haus gemeinsam laut redend betreten. Die Mutter will ihre Tochter dazu bewegen, folgsam zu sein. Sofia bleibt allerdings immer wieder stehen und weigert sich weiterzugehen. Jetzt steht sie im ersten Stock und schreit ohrenbetäubend laut. Die ersten Nachbarn öffnen die Türen – vom psychischen und emotionalen Kampf des Kindes aufgeschreckt. Sofias Mutter ist eine erfolgreiche Anwältin: „Sie muss endlich lernen, Grenzen zu akzeptieren. Ich muss einfach hartbleiben – sie erziehen.“

Doch Sofia ist nicht zu erziehen. „Mama! Komm` runter! Mama!“ brüllt Sofia wieder und wieder. „Komm’ hoch! Sofia! Ich bin hier, im zweiten Stockwerk über dir! Komm’!“

Sofias Mutter ist in den Hausflur gegangen. „Ich sehe dich nicht! Mama! Ich sehe dich nicht!!“ Sofias Körper ist vor Verzweiflung mittlerweile gekrümmt und am Boden liegend. Sie schreit und windet sich in Schüben aus Angst und Wut. Nachbarn versuchen sie zu trösten, in der Hoffnung, dass sie endlich aufhört zu schreien und aufsteht. Aber Sofia hört nicht auf. Ihr Schmerz ist so tief, um auf oberflächliche Art und Weise getröstet zu werden. Sofia ist mutterseelenalleine. Vom wichtigsten Menschen in ihrem Leben verlassen. Sie ist wie ein Ertrinkender, der ums Überleben kämpft.

Sofias Mutter ist bei ihr angekommen und nimmt sie auf den Arm. Es dauert lange, bis Sofia sich wieder beruhigt hat.

Sofias Mutter ist ratlos und sagte mir mit kläglicher Stimme: “Ich weiß nicht mehr weiter! Sie will doch nur das Beste für ihr Kind. Und doch weiß ich nicht, was das Beste ist.”

Selten drückt ein „unruhiges“ Kind es so klar aus, wie Sofia es in diesem Moment tat, was ihr inneres Erleben bewegt: „Mama, ich kann dich nicht sehen!“

ADHS als Bindungsstörung

Alle Kinder brauchen eine sichere Bindung zur Mutter. Von ihr hängt ihr Überleben ab. Sind Kinder hungrig, weinen sie – die Mutter kommt und füttert das Kind. Es geht ihm besser. Fühlt sich das Kind unwohl, weint es – die Mutter kommt, tröstet es, wechselt die Windel, es geht ihm besser. Sie schmust mit ihm, kann es fühlen, ist ganz für das Kind da.

Über die Bindung zur Mutter entwickeln Kinder ihre ganz eigenen Bilder von uns und der Welt. Dabei steht die Qualität der Bindung an erster Stelle. Bekomme ich die Sicherheit, den Schutz und die Geborgenheit, die ich brauche? Ist meine Mutter für mich da, ist sie anwesend, einfühlsam? Kann sie meine Bedürfnisse befriedigen? Oder ist sie emotional abwesend, ängstlich, belastet, versorgt mich zwar, wird aber meinen wirklichen Bedürfnissen nicht gerecht, kann mich nicht wahrnehmen, sich nicht in mich einfühlen? Dann gerät das Kind in Not. Weiß nicht, wie und ob meine Mutter auf meine Bedürfnisse reagiert. Strenge mich an, trotzdem bleiben meine Bedürfnisse unbefriedigt, ich schreie, weine, resigniere, schreie, weine. Es kommt niemand. Niemand ist da. Meine Augen erreichen die Mutter nicht. Sie ist woanders. Abwesend. Ich bin alleine. Fühle mich ängstlich, verlassen, wütend. Ich brauche Schutz. Bin schutzlos. Verlassen. Habe Angst zu sterben. Versuche es noch einmal. Schreie. Mache auf mich aufmerksam. Niemand kommt. Ich werde sterben. Jemand kommt. Sie ist nicht anwesend. Ich brauche sie. Bin alleine. Schreie. Gebe auf.

Der emotionale Kreislauf, in dem sich unruhige Kinder befinden, ist der Versuch, die Angst und Ohnmacht, den drohenden Tod, der allgegenwärtig ist, durch Bewegung zu bewältigen. Die Beunruhigung ist existentiell. Denn die Mutter ist nicht „da.“

Symptomaufstellung ADHS

Symptomaufstellungen zeigen, dass unruhige Kinder ihre Mütter emotional nicht erreichen können, weil diese ihre eigenen seelischen Verletzungen nie geheilt haben. In der Verzweiflung des Kindes spiegelt sich zugleich die Verzweiflung der Mutter, die in ihrer eigenen „Kindheitswunde“ gefangen ist wieder. Oft fühlen sich Mütter selber noch als Kinder, nehmen nicht oder nur am Rande wahr, dass Kinder da sind, die sie brauchen und die mit allen Mitteln versuchen auf sich aufmerksam zu machen. Es ist die Kernbotschaft, die Sofia in den Hausflur schrie: „Mama, ich kann dich nicht sehen!“ Umgekehrt können traumatisierte Mütter ihre Kinder nicht sehen, weil sie in unbewältigten Situationen mit ihren eigenen Müttern festhängen. Dabei spielen Kriegsgeschehnisse und unaufgearbeitete Erlebnisse aus der Grosselterngeneration eine sehr große Rolle. In seiner Sehnsucht nach Bindung öffnet sich das Kind so weit, dass es sich über die Mutter an traumatische Geschehen bindet, an das seine Mutter immer noch gebun­den ist.

Die Symptome der Unruhe, Impulsivität und Unaufmerksamkeit lassen sich als Bewältigungsversuch erkennen, mit dem das Kindes auf seine emotional abwesende Mutter reagiert, zugleich aber auch als Reaktion auf deren Traumagefühle, mit denen es in der Sehnsucht nach Bindung, in der Sehnsucht überhaupt etwas fühlen zu können, in Kontakt kommt. Diese Traumagefühle hat die Mutter weitestgehend ins Unbewusste abgespalten und verdrängt. Im Aufstellungskontext, der die seelische Wirklichkeit einer Person widerspiegelt, kommen sie wieder hoch ins Bewusstsein.

„Unruhige“ Kinder überfordern ihre Eltern. Stoßen auf Ablehnung und Widerstand. Dadurch werden sie früh stigmatisiert. Sie machen auf Wunden aufmerksam, die nie wirklich geschlossen wurden. Wenn der eigene Schmerz nicht angeschaut, nicht angenommen wird, ist es schwer die Radikalität auszuhalten, mit der ein „unruhiges“ Kind seine Verzweiflung zum Ausdruck bringt.

Und doch – auch diese Kinder tun das, was Kinder zu allen Zeiten getan haben: Sie nehmen das „Unerledigte“ und “Ungelöste” all der Generation vorher, auf ihre Schulten, wie wir es getan haben, wie unsere Eltern es getan haben. Die Stärke des Ausdrucks, die Ausdauer ihrer Rebellion, die Kraft, die heutigen Kindern zur Verfügung steht, hat dabei sicherlich eine nie zuvor erreichte Qualität angenommen. Sie nehmen es nicht einfach hin, flüchten sich nicht in Rollenspiele, verstecken sich nicht. Sie dulden es nicht – nicht angenommen, nicht gesehen zu werden. Sie rebellieren. Ihr Ausdruck ist von großer Authentizität. Nichts an ihnen ist unecht. Sie sind bereit den Widerstand auf sich zu nehmen, der ihnen von Eltern und Gesellschaft entgegenschlägt. Jedes ihrer Symptome, jeder oberflächlich noch so unverstandene Ausdruck ihrer Beunruhigung steht im Dienste von Beziehung, von Heilung. Es ist notwendig für sie und für uns, dass wir unser Verständnis für sie erneuern und beginnen unser Herz zu öffnen.

Unruhige Kinder finden zur Ruhe, wenn Eltern bereit sind, ihre eigenen seelischen Verletzungen anzuerkennen und zu heilen. Dann findet nämlich unmit­tel­bar eine Ver­än­de­rung in ihrer Seele statt. Sie dür­fen end­lich zur Ruhe kommen. Es sind enorm starke Kinder und sie brauchen enorm starke Eltern: authentisch, klar, liebevoll, zugewandt.

Kinder der Neuen Zeit

Unruhige Kinder sind die Kinder der Neuen Zeit. Sie fordern uns auf zu wachsen. Sie stehen für den Wandel, der das Alte, Falsche, Ungeheilte transformieren will in einen neuen, authentischen, liebevollen Ausdruck. Dafür nehmen sie viel auf sich. Sie halten uns den Spiegel vor – spiegeln das Unangenehme, Gespaltene und Schmerzvolle in uns. Wir als Erwachsene tragen die Verantwortung und müssen Vorbild sein. Wenn ein Erwachsener nicht in Kontakt mit sich selbst ist – welches Vorbild kann er dann sein? Wenn ein Erwachsener nicht in innerer Klarheit mit sich und seinen Themen ist – welches Vorbild kann er sein? Unruhige Kinder werden so lange rebellieren, quengeln, schreien, sich verweigern bis wir als Erwachsene in eine heilsame Bewegung kommen. In diesem Moment endet ihr Dienst.

Unsere Leistungs- und Profitgesellschaft scheint vom Wandel hin zum Neuen nichts mitbekommen zu wollen. Der Mensch mit seinen wirklichen Bedürfnissen steht nicht mehr im Mittelpunkt, schon lange nicht mehr. Das wird nicht so bleiben. Immer mehr Menschen machen sich auf den Weg, suchen nach neuen Formen des Zusammenlebens – zurück zum WIR, zurück zu einem GEMEINSAM, in dem die Werte des Herzens geachtet und gelebt werden. Der Bewusstseinswandel, der weltweit begonnen hat, ist nicht mehr aufzuhalten. Die Rebellen für die Wahrheit spielen darin eine große Rolle. Wie formulierte es eine wunderbare spirituelle Lehrerin erst kürzlich: „Erziehst du noch? Oder liebst du schon…“

…in diesem Sinne

foto/text by u.schmidt-waldner

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